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Begegnungen mit der Natur

Begegnung mit der Natur

Begegnungen mit der Natur

Von den Geistern der Orte

Der römische Schriftsteller Marcus Tullius Cicero, der in den Jahren 53 - 52 (vor Christi) selbst in Rom als Augur tätig war, berichtet in seinem Buch „De Divinatione“ (Von der Wahrsagung) über ein Zusammentreffen mit dem gallischen Druiden Divitiacus im Jahr 61. Divitiacus teilte ihm mit, dass er alles, was zukünftig sei, über Orakel aus der Natur vorhersagen könne. Denn für die Kelten war die Natur in all ihren Erscheinungsformen eine unmittelbare, direkte Offenbarung des Göttlichen.

Im Jahr 743 wurden Christen durch das Konzil von Liftinae die Verehrung der Natur bei schwerer Strafe untersagt. Verboten wurden kultische Feiern und Opferungen in den Wäldern und Bergen, die Verehrung besonderer alter Bäume und Haine, die Verehrung von Quellen und Flüssen, von alten (Grab)Hügeln und von hohen Felsen und einzelnen als heilig angesehenen Steinen, die Verehrung von Sonne und Mond und das Anzünden heiliger Feuer zu den Sonnwenden. Zum Aberglauben erklärt wurde auch die Respektierung von Orten, die man nicht betreten sollte, weil dort den Menschen feindlich gesinnte, dämonische Mächte wohnten (Unstätten). Auch sollten keine Kräuterbündel mehr gesammelt und aufgehängt und keine Unheil abwehrenden Kräuter, Sträucher und Bäume um Haus und Hof gepflanzt werden.

Dabei haben Pflanzen den Menschen vom Beginn seiner Existenz an begleitet und ihm Wohnung, Nahrung, Kleidung und Schutz gewährt. Bei Naturvölkern lebt noch der Glaube, die Menschen seien baumentsprossen und – wie auch die Tiere – Kinder der Pflanzenwelt. Den Pflanzen und Pilzen des Waldes schrieb man zu, von Naturgeistern bewohnt zu sein. Man glaubte, dass diese Wesen sich in den Pflanzen manifestierten und auch mit den Menschen kommunizierten. In Mythen und Sagen finden sich noch viele Erinnerungen an Begegnungen mit den Waldgeistern, die sich den Menschen in Gestalt der „Wilden Leute“, als Holz- und Moosweibchen, als Waldmänner und -frauen, kund taten und ihnen die Geheimnisse und den Gebrauch heilender Blätter, Rinden, Blüten, Kräuter und Pilze lehrten. In den Märchen sind es Feen, Elfen und Zwerge, die – als Schutzgeister des Waldes – dem Helden, der Heldin mit Rat beistehen und ihnen aus vielen Gefahren helfen. Heilkundige Schamanen und weise Frauen verstanden es immer mit Hilfe von als heilig angesehenen Pflanzen visionär träumend andere Dimensionen zu bereisen, sich mit ihren Bewohnern auszutauschen, von ihnen zu lernen und spirituelles Wissen zu erwerben.

Mit der Lockerung staatlicher und kirchlicher Unterdrückung und der Zunahme bürgerlicher Freiheiten begann im 18. Jahrhundert- in der Zeit des Aufkommens der Romantik- eine Hinwendung zur Natur, eine Rückbesinnung auf den Glauben vergangener Zeiten und ein Wiederaufsuchen kultischer Relikte.

Von der romantischen Bewegung beeinflusste Maler wie Joseph Anton Koch, Caspar David Friedrich, Karl Friedrich Schinkel, Ludwig Richter, Moritz von Schwind, Karl Blechen u.a. stellen in ihren Bildern magisch-mystische Ansichten der Natur dar: Einsam gelegene Teiche, Ruinen gotischer Kirchen und Kapellen, raue Landschaften mit Wasserfällen, pittoreske Felstore und Teufelssteine, wüste Moore und öde Heiden mit knorrigen Eichen. Auf den Bildern tummeln sich einsame Spaziergänger, Hirten, fiedelnde Einsiedler, Mönche, Raben, Eulen und all die Geister, die die Veranstalter des Konzils von Litftinae für immer in die Hölle verbannt geglaubt hatten.

Die Bilder der Romantik sollen erwecken, meinte Heinrich Heine. „Sie sind die kostbaren, goldenen Schlüssel womit, wie alte Märchen sagen, die hübschen verzauberten Feengärten aufgeschlossen werden.“ Auf einem Bild von Schwind schreitet der urige Berggeist Rübezahl selbstbewusst und kraftvoll durch die Wälder des Riesengebirges. In anderen Bildern des Malers schwimmt eine Nymphe wie selbstverständlich unter dem Boot eines Reisenden. Eine Fee schwebt zwischen den Bäumen auf einen fasziniert blickenden Wanderer zu und unter einem steilen Weg, den sie für einen dankbaren Rittersmann gebahnt haben, tummelt sich munter eine Zwergengesellschaft. Bei Caspar David Friedrich muss man länger hinsehen, bis man in seiner Zeichnung eines modernden Baumstumpfes den darin wohnenden Geist wahrnimmt. Es sind Bilder den Betrachter in sonderbar traumentrückte Welten und Zeiten entführen.

In solchen Bildern wurde mit der Abbildung von Gewittern, Nebeldünsten, Regenbögen, Schnee, Sonnenuntergängen und dem silbernen Schein des Mondes  der besondere Geist eines Ortes beschworen, den die Poeten auch in Worten zu fassen versuchten. Von dem Dichter Ludwig Tieck (1773-1853), dem „König der Romantiker“ lesen wir über einen Spaziergang im Mondschein in der Nähe von Halle: „Ich ging vor einer Wassermühle vorbei, deren schäumender Wasserfall wie Flammen in dem Strahl des Mondes flutete, alles war so schön, so abenteuerlich ... Endlich stieg ich auf die Felsen, die schönste Gegend bei Giebichenstein, wie alles so romantisch vor mir lag, mir war, als lebt‘ ich in der fernsten Vergangenheit, die Ruinen des Ritterschlosses blickten so ernsthaft nach mir hin alles war so schauerlich, alles stimmte die Phantasie so rein, so hoch.“ Erst die Romantiker  hätten die Ruinen neu entdeckt und die fast vergessene Burg auf der markanten Bergkuppe wieder in Erinnerung gerufen, weiß der volkskundliche Schriftsteller Clemens Zerling. Und: Mit neu verfassten Sagen, Gedichten und Märchen habe man versucht, der Qualität des Ortes nahe zu kommen.

Johanna Schopenhauer, die Mutter des Philosophen Arthur Schopenhauer, eine engagierte Reisende, findet bei der Durchreise durch Gelnhausen, dass die Stadt ein wundersames, märchenhaftes Aussehen hat. Versunkene Trümmer alter Herrlichkeit erblickt sie: „Uralte Mauern, mit Efeu bedeckte graue Türme, zwischen denen die neuen Häuser wunderlich dastehen, gaben dem ganzen Ort ein rätselhaftes Aussehen, und die alte Sage, daß die Liebe des Kaisers (Barbarossa) zu dem wunderschönen Fräulein Gela ihm Namen und Entstehen gab, versetzte uns vollends ins wilde romantische Land, in welchem sich die Phantasie so gern ergeht.“

Der Fürst von Pückler-Muskau und der Dichter Johann Wolfgang von Goethe, die bei Zusammenkünften sich gern über die Gestaltung großer Parkanlagen nach der Natur austauschten, installierten in ihren Gärten künstlich geschaffene Einsiedeleien, Grabmäler, Pyramiden, Kirchen- und Burgruinen, Tempel, Höhlen und Felsentäler, um eine romantische Stimmung zu schaffen. Im Tieffurter Park bei Weimar führte Goethe mit seinem Freund, dem Herzog von Weimar, und den Damen und Herren des Hofes bei Nacht im „Wald- und Wassertheater“ Sing-, Orakel- und Schaustücke auf. Die Installationen bildeten die romantische Staffage dazu. Bei der Uraufführung eines Orakelstückes im Jahre 1778 trat Goethe selbst in der Rolle des Königs Andrason als Orakelbefrager auf.

Goethe, der mit auguralen Praktiken sehr vertraut war, sah in der Weissagung, die sich aus der Betrachtung der Natur ergibt („wenn die Natur ihr offenbares Geheimnis zu enthüllen anfängt“), die höchste Kunst: „Sie erkennet aus dem Offenbaren das Verborgene, aus dem Gegenwärtigen das Zukünftige, aus dem Todten das Lebendige und den Sinn des Sinnlosen.“

Geübt hatte Goethe das Schauspielern schon, als er in seiner Heimat¬stadt Frankfurt am Main seine Mitbürger mit einem Geisterspuk narrte. Bettina von Arnim erzählt davon. „Einmal zur Herbstlese, wo denn in Frankfurt am Abend in allen Gärten Feuerwerke abbrennen und von allen Seiten Raketen aufsteigen, bemerkte man in den entferntesten Feldern, wo sich die Festlichkeit nicht hin erstreckt hatte, viele Irrlichter, die hin und her hüpften, bald aneinander, bald wieder eng zusammen. Endlich fingen sie gar an, figurierte Tänze aufzuführen. Wenn man nun näher drauf los kam, verlosch ein Irrlicht nach dem anderen, manche taten noch größere Sätze und verschwanden, andere blieben mitten in der Luft und verloschen dann plötzlich, andere setzten sich auf Hecken und Bäume, weg waren sie. Die Leute fanden nichts, gingen wieder zurück, gleich fing der Tanz von vorne an, ein Lichtlein nach dem anderen stellte sich wieder ein und tanzte, um die halbe Stadt herum. Was war’s? – Goethe, der mit vielen Kameraden, die sich Lichter auf die Hüte gesteckt hatten, da draußen herumtanzte.“

Als Goethe 1765 zum Studium nach Leipzig fuhr, begegneten ihm auf dem Weg zwischen Hanau und Gelnhausen bei Nacht einmal auch wirkliche Irrlichter: „Ich sah an der rechten Seite des Wegs, in einer Tiefe, eine Art von wundersam erleuchtetem Amphitheater. Es blinkten nämlich in einem trichterförmigen Raume unzählige Lichtchen stufenweise übereinander, und leuchteten so lebhaft, daß das Auge davon geblendet wurde. Was aber den Blick noch mehr verwirrte, war, daß sie nicht etwa stillsaßen, sondern hin und  wieder hüpften, sowohl von oben nach unten, als umgekehrt und nach allen Seiten.“


Ansichten von den Wunderbarkeiten der Natur

Mit ihren umfangreichen Sammlungen von Sagen, Märchen und Mythen gelang es den Brüdern Grimm und einem Kreis gleichgesinnter Freunde „die alte Ansicht von der Wunderbarkeit der Natur“ dem Vergessen zu entreißen: „Und in all den Sagen von Geistern, Zwergen, Zauberern und ungeheuren Wundern ist ein stiller, aber wahrhaftiger Grund vergraben, vor dem wir eine innerliche Scheu tragen, welche in reinen Gemütern die Gebildetheit nimmer verwischt hat und aus jener geheimen Wahrheit zur Befriedigung aufgelöset wird“, schreibt Jacob Grimm 1808 in einem Beitrag für Achim von Arnims „Zeitung für Einsiedler“.

Die Hinwendung zur Natur geschah sehr unterschiedlich: Dem Wunsch der einen, die Natur zu erforschen, stand der Wunsch anderer, die Natur zu erleben, zu erfahren, sich in ihrer grenzenlosen Vielfalt zu verlieren, gegenüber. Goethe z. B. wollte Wolken klassifizieren, sie in ein System bringen, sie erforschen. Er führte ein ‘Wolkendiarium’ (Wolkentagebuch), in das er Wolkenformen nach der Typologie von Howard einzeichnete und nach Cirrus-, Cumulus- und Stratus-Wolken ordnete. Dem Ungeordneten eine Ordnung zu geben, war für Goethe das höchste Ziel aller Wissenschaft und Kunst. Für den Maler Caspar David Friedrich dagegen stellte das Anschauen der Natur in erster Linie Selbsterfahrung dar. Als Goethe 1816 ihn um die Anfertigung von Wolkenbildern nach Luke Howards Lehre bat, lehnte der Maler ab. Er wolle, so seine Antwort, die leichten freien Wolken nicht sklavisch in diese Ordnung einzwängen. Wolken und Nebelschwaden, die er häufig in seine Bilder als Gestaltungsmotiv einbezog, sollen eine Gegend „gleich einem verschleierten Mädchen" größer, erhabener machen, die Einbildungskraft erhöhen und Raum für das Geheimnisvolle, Numinose lassen.

Um den ursprünglichen Sinn der Welt wiederzufinden, muß (wie Novalis in einem berühmt gewordenen Aphorismus sagte) die Welt romantisiert werden: „Indem ich dem (All)Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so ro-mantisiere ich es.“ Der Maler Veit Hanns Schnorr von Carolsfeld (1754 - 1841), Freund und 1802 Reisegefährte von Johann Gottfried Seume bei dessen „Spaziergang nach Syrakus“, empfindet dementsprechend den Heugeruch des Gebirgsgrases und das Herumlaufen in den Wäldern als „ausgelassene Fröhlichkeit unseres Existenztaumels“. Rauchte und dampfte nach einem Gewitter aus den Tannen der Nebel, schrieb man dies dem Treiben von Hexen zu, die dort Zaubertränke brauten.

Staunen über den Weltgeist

Jacob Grimm hat nach Spaziergängen in der Umgebung von Marburg notiert, dass er sinnig umhergehe und doch nichts sehe: „Meine Gedanken sind nicht hier. Dann sitze ich unter einem Weidenbaum und sehe nichts weiter als die schöne Gegend, aber plötzlich fällt mir ein, daß ich so einsam dasitze. Dann mache ich nur, um wieder nach Hause zu kommen.“

Spazieren zu gehen, ohne ein Ziel zu haben („und nichts zu suchen war mein Sinn“), beflügelte auch Goethe. Als Jugendlicher, beim Gang über die große Mainbrücke in Frankfurt am Main konnte, wie er in „Dichtung und Wahrheit“ schreibt, der schöne Fluss seine Blicke träumerisch auf sich ziehen und ihn in der Phantasie an einen anderen Ort entführen. Von hier aus wanderte Goethe weiter zur Gerbermühle. Diesen Spaziergang hat er in seiner Dichtung „Faust“ als Osterspaziergang verewigt. Vom Balkon, der außerhalb Frankfurts malerisch am Main gelegenen Gerbermühle, in der in späteren Jahren zeitweise ein Zimmer für ihn reserviert war, beobachtete er gern Sonnenuntergänge. Die Farbenglut am Himmel, auf dem Wasser und in den Bergen bezauberten ihn außerordentlich.

Als er sich nach einem gesellschaftlichen Skandal, in den er als junger Mann verwickelt war, sehr unglücklich und von seinem Freundeskreis enttäuscht fühlte, zog es ihn eine Zeitlang tagtäglich in die Einsamkeit der Wälder um Frankfurt, um „mein armes verwundetes Herz darin zu verbergen“. Im Zeichnen von Bäumen kamen seine aufgewühlten Gefühle zur Ruhe. Zu Bäumen hatte Goethe ein ganz besonderes Verhältnis. Mit ihrer „stillen, leidlosen Vegetation“ gaben sie ihm Erbauung und Trost. Dass ein „ehrwürdiger“ Wacholderbaum, der in seinem Weimarer Garten am Stern noch aus alter Zeit stand, 1809 von einem gewaltigen Sturm niedergeworfen wurde, erfüllte ihn mit Wehmut. Diesen „Zeugen glücklicher Tage“ ließ er vermessen, zeichnen und aus seinem Holz kleine Gebrauchsgegenstände fertigen, die in seinem Haushalt besonders in Ehren gehalten wurden. In seinem letzten Lebensjahr ließ er sich von Weimar nach Martinroda fahren und suchte dort eine alte, von ihm verehrte Eiche auf, die er über sechzig Jahre hin immer wieder einmal besucht hatte.

Als Goethe auf weiteren Wanderungen den sagenumwobenen Feldberg im Taunus bestieg, und vom Gipfel aus sich umsah, lockte ihn die Ferne gewaltig. Bei einem mehrtägigen Ausflug gelangte er zu Fuß bis Biebrich am Rhein. Vom Gang durch die Landschaft erheitert, machte er sich „zufrieden und froh“, schreibt er, wieder auf den Rückweg nach Frankfurt. Es mag die Erinnerung an diese Erlebnisse gewesen sein, die ihn 1814 und 1815 erneut am Rhein und Main umherreisen und seine Eindrücke in einem Buch („Über Kunst und Althertum in den Rhein- und Maingegenden“) niederschreiben ließ.

Wie sehr der Geist eines Ortes ein empfindsames Gemüt packen kann, zeigt die Beschreibung des Malers Peter von Cornelius von seiner Wanderung zum Taunus-Feldberg im Jahre 1811: „In Begeisterung vertieft, die sich bei jedem nur auf verschiedene Weise äußerte, hatten wir des Berges Gipfel erreicht. Unser Gesichtskreis erweiterte sich nun nach allen Gegenden. Ein unbekanntes, wunderbares Gefühl, das sich in Staunen und heiliger Bewunderung der unendlichen Größe eines allwissenden Geistes aller Welten geäußert, ergreift das Gemüt beim Anblick dieser unermesslichen Ansicht. Die Welt schwebt unter uns in verworrenen Formen, aber alles löst sich in großen Maßen wie in goldenem Duft und Nebel auf. Wie im Regenbogen schmelzen in Licht und Glanz die farbigen Töne des Horizonts und vermählen sich mit den Strahlen des lichtblauen Himmels. Eine Welt ohne Grenzen dem Auge wie dem Geiste der Gedanke der Unendlichkeit!“


Den Willen der Götter erkunden

Im Dezember 1777 unternahm Goethe von Weimar aus einen 500 km langen und 16 Tage dauernden „wunderlichen“ Ritt durch Schlamm und Schnee in den Harz. Diese Reise unternahm er heimlich. Sie war eine Wallfahrt in die Einsamkeit, ein Abenteuer, das man (wie er selbst sagte) bizarr nennen könnte. Am 29. November brach er noch vor dem Morgengrauen in Weimar auf. Briefe, die er an seine Vertraute, Frau vom Stein, schrieb, chiffrierte er in Bezug auf die Absendeorte.

Einen Bussard, der damals von Jägern und Vogelstellern als „Geyer“ bezeichnet wurde, den er beim Ritt in den Harz „im düstern und von Norden her sich heranwälzenden Schneegewölk“ über sich schweben sah, nahm er - ganz im Sinne der antiken Ausdeutung des Flugs der Auguralvögel - als gutes Vorzeichen für sein Vorhaben.

Die Natur als Orakel zu nutzen, war Goethe nicht neu. Schon bei einer Lahnwanderung im Jahre 1772 hatte er mit Hilfe eines ins Wasser geworfene Messer darüber orakelt, ob er besser die Laufbahn eines bildenden Künstlers einschlagen sollte oder sich ganz der Dichtkunst widmen sollte.

Am 1.12. besucht er die Baumannshöhle bei Rübeland und verbringt am 2. Dezember sinnend den Tag darin. Am 6.12. schreibt er, er habe einen Wunsch an den Vollmond: „Wenn ihn die Götter erhöhren, wärs großen Dank werth.“

In einem Fremdenbuch trägt er sich am 8.12. als Johann Wilhelm Weber, Maler aus Darmstadt, ein und reist inkognito weiter. Am 9. Dezember entgeht er um Haaresbreite dem Tod. Auf seinen Begleiter fällt in einem Bergwerk ein Stück Erde von 5 Zentnern Schwere, das Goethe nur  um Haaresbreite verfehlt. Am 10.12. war er mit einem Führer durch tiefen Schnee zu dem am Fuß des Brockens gelegenen Torfhaus heraufgestapft. „Wie ich“, schreibt Goethe, „zum Torfhause kam sas der Förster bei seinem Morgenschluck in Hemdsermeln, und diskursive redete ich vom Brocken und er versicherte die Unmöglichkeit hinauf zu gehen, und wie offt er Sommers droben gewesen wäre und wie leichtfertig es wäre iezt es zu versuchen – Die Berge waren im Nebel man sah nichts, und so sagt er ists auch iezt oben, nicht drey Schritte vorwärts können Sie sehn. Und wer nicht alle Tritte weis pp. Da sas ich mit schwerem Herzen, mit halben Gedancken wie ich zurückkehren wollte. Und ich kam mir vor wie der König den der Prophet mit dem Bogen schlagen heisst und der zu wenig schlägt. Ich war still und bat die Götter das Herz dieses Menschen zu wenden und das Wetter, und war still ... So sagt er zu mir: nun können Sie den Brocken sehn, ich trat ans Fenster und er lag vor mir klar wie mein Gesicht im Spiegel, da ging mir das Herz auf und ich rief: Und ich sollte nicht hinaufkommen! haben Sie keinen Knecht, niemanden – Und er sagte ich will mit Ihnen gehen!“

Dass Johann Christoph Degen, der seit 13 Jahren als Förster amtierte und der noch nie im Winter den Brocken bestiegen hatte, so plötzlich einwilligte, war für Goethe der Anfang vom erhofften Wunder. Am 11. Dezember erreichte Goethe sein Ziel: „Früh nach dem Torfhause in tiefem Schnee. 1 viertel nach 10 aufgebrochen von da auf den Brocken. Schnee eine Elle tief, der aber trug. 1 viertel nach eins droben, heitrer herrlicher Augenblick, die ganze Welt in Wolcken und Nebeln und oben alles heiter.“ Die geglückte Besteigung nahm Goethe als Zeichen der Götter, dem Wunsch des Herzogs, dass er in Weimar ab sofort in der Regierung mitarbeiten sollte, zuzustimmen.

Jahre später beschrieb Goethe in einem Aufsatz, wie seine Empfindun¬gen gewesen waren, als er auf dem Gipfel des Brockens gestanden hatte: „Auf einem hohen nackten Gipfel sitzend und eine weite Gegend überschauend, kann ich mir sagen: hier auf dem ältesten ewigen Altare, der unmittelbar auf die Tiefe der Schöpfung gebaut ist, bring‘ ich dem Wesen aller Wesen ein Opfer. Ich fühle die ersten, festesten Anfänge unsers Daseins; ich überschaue die Welt, ihre schrofferen und gelinderen Thäler und ihre fernen fruchtbaren Weiden, meine Seele wird über sich selbst und über alles erhaben und sehnt sich nach dem näheren Himmel.“


Literaturverzeichnis


– Badische Zeitung vom 5.1.2001 / IV: „Tapfer dahingelebt“

– G. Bott, H. Vogel, Hessen in romantischer Zeit, Hanau 1979

– Cicero, Von der Weissagung, München 1967

– Frankfurter Rundschau vom 23.3.1999, Beilage: „Der Osterspaziergang“

– H. Gruner, Opfersteine Deutschlands, Leipzig 1881

– H. Heckmann, W. Michel, Frankfurt mit den Augen Goethes, Frankfurt/Main 1982

– Justinus Kerner, Ausgewählte Werke, Stuttgart 1981

– Ludwig Laistner, Nebelsagen, Stuttgart 1879

– Michael Müller-Will, Heidnische Opferplätze im frühgeschichtlichen Europa nördlich der Alpen, J. Jungius Gesellschaft der Wissenschaft, Hamburg, Jahrgang 7, 1989, Heft 3

– Rudolf Muuss, Die altgermanische Religion nach kirchlichen Nachrichten aus der Bekehrungszeit der Südgermanen, Bonn 1914

– Anja Petz, Goethe und die Kunst, Begleitheft zur Ausstellung in Frankfurt am Main und Weimar, 1994

– Stefan Schneckenburger, Goethe und die Pflanzenwelt, Palmengarten Sonderheft 29, Frankfurt/Main 1999

– J. Schneider, Deutsche Landschaften, Frankfurt am Main 1981

– Albrecht Schöne, Götterzeichen - Liebeszauber - Satanskult: Neue Einblicke in alte Goethetexte, München 1982

– Claus Sommerhage, Deutsche Romantik, Köln 1988

– Ludwig Steinfeld, Chronik einer Straße, Horb 1990


Von Trugbildern, Zufallsbildern und akustischen Erregungen der dritten Art

Als ich 2002 in Erfurt den Künstler und Bildhauer Marko Pogačnik auf einer geomantischen Erkundung durch die Stadt begleitete, fand ich eine Äußerung von ihm sehr hilfreich. Manchmal, sagte er, zeigen sich Naturgeister in ihrem jeweiligen Element den Augen der Menschen, zumindest in Andeutungen.

Bei Spaziergängen in der Natur beobachte ich schon immer, dabei stets die Ausführungen von Edwin Rausch, meinem Professor an der Frankfurter Uni, über figural-optische Täuschungen im Ohr, meine Umgebung genau. Wenn ich glaube, eine Spur eines Angehörigen des „verborgenen Volkes“ zu sehen, zückte ich meine Kamera, frage mein „Gegenüber“ um Erlaubnis und drücke ab. Zu meiner Freude sehe ich manchmal auf dem entwickelten Foto tatsächlich „etwas“. Gab ich dann der in uns allen vorhandenen Tendenz nach, im scheinbar gestaltlosen Strukturen bekannte Muster zu finden, schienen die fotografierten Objekte durchaus eine individuelle Persönlichkeit und einen eigenen Charakter zu zeigen. Oft bekam ich noch einen Hinweis, mit wem ich es zu tun hatte und wie die momentane Verfassung und Befindlichkeit war.

Was und wer zeigte sich nicht alles in den amorphen Strukturen von Blättern, auf Rinden, auf Steinen und Felsen, im Feuer oder im Wasser: Amöbische Vielfüßler, Monster, schreiende offene Münder, Fabelwesen, Totenschädel, Zwerge, Salamander, Tintenfische und geheimnisvolle Schriftzeichen, die entziffert werden wollten. Ich wurde(um nur mal einige zu nennen) gut Freund mit Frau Blattmuhme, den Herren Rautenmaul, Hohlauge, Vulkano, Schiefmaul, Spitznase, Ohrator und Mr. Sauertopf. Sogar Kuhfladen boten sich frecher weise dem Auge als belebt an.

Wenn ich mit Kindern unterwegs war, war ich erstaunt, mit welcher Begeisterung sie sich auf ein solches Suchspiel einließen. Pädagogen fragen sich mittlerweile, ob eine animistisch-assoziative Naturdeutung bei Kindern nicht einen besseren, weil affektiv besetzten Zugang zu Naturphänomenen schafft als eine Distanz erzeugende, naturwissenschaftlich-unbarmherzige Formulierung, die eine Verdinglichung unserer Umwelt herstellt und zur Entfremdung von der Natur führt. In der Vergangenheit galt in Schulen, in der Berufsausbildung und an der Universität die Beseelung der Natur in Beschreibungen als unerwünschte subjektive und romantisch-naive Wertung. Die Natur als Ding, als Sache zu sehen, fördert, wie die Menschheit es gerade erlebt, die Zerstörung der Erde und ihres Ökosystems mit Siebenmeilenstiefeln und sieht den Mensch als isoliertes Gegenüber und nicht als eingeflochtenen Teil des Netzwerkes der Natur. „Nur was ich schätze, bin ich bereit zu schützen“, stellte der renommierte Pädagoge Ulrich Gebhard bei einer Tagung fest. „Anthropomorphe Interpretationen erweisen sich – jedenfalls bei Kindern – als eine zentrale Argumentationshilfe bei dem Versuch, den Umgang mit nichtmenschlichen Objekten im Allgemeinen und Naturobjektiven im Besonderen ethischen Kriterien zu unterziehen. Die Natur wird aufgrund der anthropomorphen Interpretation nicht ausschließlich als nichtmenschlicher Objektbereich angesehen. Menschliche Maßstäbe werden auf diese Weise auch zu Maßstäben im Umgang mit Naturobjekten. Oder zugespitzt formuliert: Auf diese Weise wird der menschliche Naturbezug humaner.“ (Siehe Elke Loepthien 2008: „Von der Umweltbildung zur Umweltbindung – Möglichkeiten von Anthropomorphismen zur Erzeugung und Stärkung von Naturverbundenheit in der Umweltbindung“, Wiesbaden sowie auch Ulrich Gebhards Vortrag zum Fachtag 2007 „Naturnahes Spielen in Bremen“: Die Bedeutung von Naturerfahrungen in der Kindheit, Zitat S. 8 f. [www.spielelandschaft.de])

In Workshops zeigte ich, anfänglich etwas zögerlich, meine „Porträtstudien“ über den Beamer. Zu meinem Erstaunen identifizierten die Teilnehmer ohne mein Zutun die jeweiligen Wichte. Außerdem erkannten sie auf den Bildern weitere „Geisterchen“, die mir vorher gar nicht aufgefallen waren.

Manchmal kann man auf Felswänden ganze „Ahnengalerien“ solcher Wesen beobachten, so z.B. auf der Felsengruppe der Externsteine, der Felsengruppe der Wilhelmsteine im Scheldwaldt (Hessen), auf einer Felswand auf dem Weg von Bad Bertrich zur Antoniusruh am Ursbach, auf den Felswänden über Gondo, einem Schweizer Ort an der Grenze zu Italien, oder auf dem Munder Stein im Wallis. Je nach Tageszeit, Licht und der Nähe /Ferne entstehen aus den amorphen Strukturen immer neue Konfigurationen für das anthropomorphisierende Auge. Den Menschen früherer Jahrhunderte kam das wie das magische Gaukelspiel unterirdischer Mächte vor. Eine klassische Unstätte für den Christen: „Bleib bloß weg!“

Kleine Leute, „Zwergli“, sollen im Munder Stein (der nicht von ungefähr auch Teufelsstein genannt wird) leben, heißt es in Überlieferungen. Der Stein wurde denn auch mit einem eisernen Kreuz exorziert. Die Bewohner, die Geister dieses Ortes, hat es bisher nicht gestört. Unverschämt und aufdringlich zeigen sie sich weiterhin den Augen der Menschen.

Auf der Insel Menorca lädt eine ganz kleine Bucht, die Cala Rafalet, Einheimische, Residents und Touristen zum Schwimmen vor einer fantastischen Felskulisse ein. Schnorchler, Taucher und Nacktbader finden hier ihr Paradies. Als „una cala virgen de extrema belleza“ beschreiben spanische Reiseführer das märchenhafte Örtchen. Am Anfang der Bucht gibt es etwas Sand und viele Steine, auf das Schönste geformt vom Spiel der Wellen. Setzt man sich hinzu und schließt die Augen, bietet sich den Ohren eine akustische Performance der Sonderklasse. Das Wasser rumpelt, gurgelt, sprudelt, trommelt, seufzt, grollt, droht, plappert und  rauscht. Es offenbart das geheime Wissen der Geister des Ortes in (s)einer eigenen Sprache.


 
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